Der Genozid an Roma und Sinti

Der Genozid an der Romabevölkerung

Die Verfolgung und Ermordung der Roma-Minderheiten in Europa (Roma, Sinti und andere als "Zigeuner" bezeichnete Minderheiten) fand etwa zeitgleich an denselben Orten wie der von den Nazis geführte Völkermord an den Juden im Holocaust statt. In vielen Fällen waren dieselben Akteure für die Gewalt verantwortlich, wie die deutschen SS-Tötungskommandos, Angehörige der Polizei und örtliche Kollaborateure. Trotz dieser Ähnlichkeiten sollte der Roma-Genozid als historisches Ereignis mit eigenen Ursachen und spezifischen Folgen in den verschiedenen Ländern gesehen werden. Auch sein Erbe in der Gesellschaft  unterscheidet sich stark von jenem des Holocaust.

Roma in Europa

Es gibt viele Selbstbezeichnungen der Roma. Sie nennen sich Roma, Sinti, Lovara, Kalderasch, Jenische, Manouches, Kalé, Romanichal Travellers, Resande u.v.m.  in ihren Sprachen. Als Überbegriff war in vielen  Mehrheitsgesellschaften der Begriff "Zigeuner" in Verwendung, der negativ konnotiert ist. Die Angst, das Misstrauen oder der Hass gegen Roma und andere Gruppen der Gesellschaft, die als "zigeunerartig" gelten, werden als Antiziganismus oder Antiromaismus bezeichnet.

Ein Fotograf mit einer Gruppe nomadischer Roma. Das Foto wurde wahrscheinlich 1939 in der Tschechoslowakei aufgenommen.

Die Vorfahren der Roma und verwandter ethnischer Gruppen der Domari ("Nawar") im Nahen Osten, der Lomari in Armenien, der Lyuli in Zentralasien verließen ihre ursprüngliche Heimat in Indien in Migrationswellen, die um 500 u. Z. begannen.
Etwa um 1000 u. Z. erreichten die Vorfahren der heutigen Roma das Byzantinische Reich. In den folgenden Jahrhunderten übernahmen sie Elemente der byzantinisch-griechischen Kultur und wurden als Roma
Teil der Familie der europäischen Völker.

Als das Byzantinische Reich im Mittelalter an Einfluss verlor, verteilten sich Roma-Gruppen in mehreren Wellen über Europa. Um 1600 waren Roma in allen Gegenden Europas zu finden, von Griechenland bis Schottland, von Portugal bis Finnland und Russland.

Diese Roma-Gruppen differenzierten sich aufgrund unterschiedlicher Migrationsrouten und durch den Kontakt mit Gemeinschaften, mit denen ihr Weg sie zusammenführte. So entstanden die Vielzahl von heute gesprochenen Dialekten, von Traditionen, Berufen und religiösen Überzeugungen der Roma-Gruppen in Europa. So sprechen etwa finnische Roma einen von der finnischen Sprache beeinflussten Romanes-Dialekt, ihre traditionelle Kleidung unterscheidet sich deutlich von jener der spanischen Kalé oder der ungarischen Roma. Gleichwohl haben die verschiedenen Roma-Gruppen Elemente einer ursprünglichen, gemeinsamen Roma-Kultur bewahrt, wenn auch in unterschiedlichen regionalen Ausprägungen. 

Antiziganismus und Verfolgung von "Zigeunern" vor der NS-Ära

Wie beim Antisemitismus reicht die Geschichte des Antiziganismus bis zur Einwanderung der Roma nach Europa zurück. Antiziganismus ist in allen europäischen und vielen außereuropäischen Gesellschaften anzutreffen. Er bildete die Grundlage für den Völkermord an den Roma Europas während des Zweiten Weltkriegs.

Schon im Europa des 17. Jahrhunderts hatten zahlreiche Stereotype zu "Zigeunern" Verbreitung gefunden. Etwa, dass "Zigeuner" von Natur aus kriminell und schmutzig, unzuverlässig, betrügerisch und unmoralisch seien und weder an ehrlicher Arbeit noch einer normalen Lebensweise interessiert seien. Man behauptete, dass "Zigeuner" es stattdessen vorzögen, von Ort zu Ort zu ziehen, zu betteln und zu stehlen, Kunststücke vorzuführen oder als einfache Taglöhner ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Von der sesshaften Bevölkerung wurden fahrende "Zigeuner" im harmlosesten Fall als gefährliche Ausländer und im schlimmsten Fall als Vertreter des Teufels angesehen.

Großteils beruhte die Feindseligkeit gegenüber "Zigeunern" auf Missverständ-nissen von Begegnungen der lokalen Bevölkerung mit den ersten Roma. Kulturelle Unterschiede und Sprachbarrieren erschwerten es beiden Seiten Fehler zu vermeiden.

Gegenseitiges Misstrauen und Vorbehalte führten dazu, dass Roma gesellschaftlich ausgegrenzt wurden und ihre Lebensweise an diese Ausgrenzung durch die Mehrheitsbevölkerung anpassten.

In vielen europäischen Ländern des 17. und 18. Jahrhunderts waren Roma von antiziganistischen Gesetzen und Vorschriften betroffen. Sie wurden der Kriminalität, der Hexerei, der Verbreitung von Krankheiten oder der Spionage für den Feind beschuldigt. Unter diesem Vorwand verbot man den sogenannten "Zigeunern", länger an einem Ort zu bleiben. Sie wurden auch von bestimmten Aktivitäten ausgeschlossen, wie dem Erwerb von Besitz oder der Teilnahme an Zeremonien der Kirche.

Die Regierungen Spaniens und Ungarns zwangen Roma sich anzusiedeln.  Es wurde ihnen ihre Sprache und die Ausübung ihrer Kultur verboten, um sie zu „rechtschaffenen“ Bauern zu erziehen. In Skandinavien war es gesetzlich erlaubt, männliche "Zigeuner" vor Ort zu töten und Frauen und Kinder zu zwingen, das Land zu verlassen. In den rumänischen Ländern vom späten Mittelalter bis in die 1850er Jahre gehörten "Zigeuner" als Sklaven zum Eigentum mächtiger Landbesitzer, einschließlich der Kirche. Beispiele aus ganz  Europa zeigen, dass man Menschen, die den "Zigeunern" zugeordnet wurden, als Problem oder Bedrohung betrachtete und ihnen weniger Rechte zugestand als anderen.

Mit dem Aufstieg des modernen Nationalstaates im 19. Jahrhundert entwickelten sich neue Formen des Antiziganismus. Die neuen Ideen "reiner" Nationen und "Rassen" schlossen "Zigeuner" als minderwertig aus. Schließlich führte die Entwicklung einer modernen kapitalistischen Marktwirtschaft zur Überzeugung, dass die Lebensweise der "Zigeuner" rückständig und unproduktiv und daher zu verbieten sei.

Diese Einstellung begann auch die Politik zu beeinflussen. Die Polizei, eine Schlüsselinstitution aller modernen Staaten, sah den Kampf gegen "Zigeuner" als Priorität an. Zusehends bedeutete ein Rom zu sein, einem Verbrecher gleichgesetzt zu werden.  Gemäß der rassistischen Auffassung des 19. Jahrhunderts, dass verbrecherische Eigenschaften weitervererbt werden, wurden "Zigeuner" von Geburt an als Verbrecher angesehen. Daher hatte die Polizei bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, Österreich, Frankreich und einigen anderen europäischen Ländern die Befugnis, "Zigeuner" in ihrem Hoheitsgebiet zu registrieren und im Auge zu behalten.

Viele Polizisten sahen es als ihre Aufgabe an, die Ausbreitung der "Zigeunerplage"
ein damals verbreiteter Begriff im öffentlichen Diskurs zu verhindern.

Ein Beispiel für die grausamen Anti-Zigeuner-Gesetze im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts: Der abgebildete Erlass besagt, dass alle erwachsenen Zigeuner im Land durch Erhängen getötet und ihre Kinder in Waisenhäuser geschickt werden sollen (Preußen, 1725).

Der Umgang mit Roma und Sinti während der NS-Zeit, 1933–1939

Mit der Machtübernahme Hitlers und der NSDAP veränderte sich die Situation der beiden wichtigsten Roma-Gruppen, der Roma und Sinti weiter. Die Veränderungen glichen dem Prozess der Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Dennoch sollten sie als eigenständige, parallele Entwicklung angesehen werden, da andere Interessen innerhalb des NS-Systems den Anstoß gaben.

Im Gegensatz zu seinem öffentlich deklarierten Antisemitismus äußerte sich Hitler selten über "Zigeuner". Der Druck, etwas gegen die sogenannte "Zigeunerplage" zu unternehmen, kam von Seiten der Polizei, insbesondere der Ordnungspolizei (antijüdische Maßnahmen wurden im Gegensatz dazu häufig von der NS-Sicherheitspolizei durchgeführt). Als die Nazis die deutschen Polizeikräfte unter der Kontrolle der SS umstrukturierten, gewannen die Kräfte Zulauf, die Maßnahmen gegen "Zigeuner" forderten.

Bereits bestehende Gesetze gegen "Zigeuner, Vagabunden und Arbeits-scheue" aber auch das neue NS-Gesetz gegen "Gewohnheitsverbrecher" führten in Deutschland ab 1933 zu weitreichenden Verhaftungen und Schikanen gegenüber Roma durch die Polizei. 1936 wurde eine zentrale Polizeidienststelle zur "Bekämpfung der Zigeunerplage" in München eingerichtet, wo die bayerische Polizei seit 1899 Verzeichnisse über Roma geführt hatte. Auch in Österreich gab es bereits vor der NS-Zeit eine polizeiliche Erfassung von Roma und Sinti.

Nach verschiedenen lokalen Aktionen, wie der Zwangsräumung von Roma anlässlich der Olympischen Spiele 1936 in Berlin, fand im Juni 1938 landesweit die sogenannte "Aktion Arbeitscheu Reich" statt. Im Dezember 1938 sandte Heinrich Himmler als Chef der SS und der deutschen Polizei ein offizielles Grundsatzdokument zur "Bekämpfung der Zigeunerplage" an alle Polzeieinheiten.

Die Haltung gegenüber Roma, die sich im Begriff "Zigeunerplage" widerspiegelt, wirkte sich auch auf andere Politikbereiche aus. In Übereinstimmung mit der Polizei argumentierten Fachkräfte des Innenministeriums, dass gemäß den diskriminierenden rassistischen Vorschriften der "Nürnberger Gesetze" von 1935 neben Juden auch "Zigeuner" als "rassisch fremd" in Europa anzusehen seien und damit als "ethnisch Deutschen" nicht gleichwertig. Das Gesetz zur Zwangssterilisation von 1933, das verhindern sollte, dass "minderwertige" Menschen Kinder bekommen, wurde nun auch gegen Roma angewendet.

Der Polizeipsychologe Robert Ritter wurde beauftragt, alle "Zigeuner" in Deutschland und Österreich zu registrieren und Rassenprofile zu erstellen, zunächst für die "Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle" des Reichsgesundheitsamtes, später für das von Himmler errichtete "Kriminalbiologische Institut der Sicherheitspolizei". Ritter und seine Assistentin, die Krankenschwester Eva Justin, sammelten eine große Datenbank mit vertraulichen Informationen über Tausende von Sinti und Roma und berieten die NS-Behörden in politischen Fragen zu "Zigeunern".

In NS-Deutschland konnten als "Zigeuner" geltende Personen verhaftet und in Konzentrationslager gebracht, bei den Streitkräften außer Dienst gestellt und ihrer Staatsbürgerschaft beraubt werden. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verwandelte sich die Verfolgung in einen Völkermord, der sich auf jene Länder ausbreitete, die unter die Kontrolle oder den Einfluss des nationalsozialistischen Deutschlands gerieten.

Dr. Robert Ritter und seine Mitarbeiterin Eva Justin bei der Abnahme von Blutproben im Rahmen ihrer Rassenforschung an Roma. Landau, Deutschland, 1938.

Eva Justin nimmt Maß am Kopf einer Romni. Rechts im Bild ihre Mitarbeiterin Sophie Erhardt. Landau, Deutschland, 1938.

Völkermord in Europa, 1939–1945

Antiziganismus und politische Maßnahmen gegen "Zigeuner" waren nicht nur in Deutschland verbreitet. Einheiten für internationale polizeiliche Zusam-menarbeit einer neu in Wien gegründeten Organisation, der Interpol, diskutierten in den 1920er und 1930er-Jahren über sogenannte "Zigeunerkriminalität". Denn diese galt nicht nur als nationales sondern auch als grenzübergreifendes Problem. Diese Haltung verstärkte sich noch, als das NS-Regime mit dem "Anschluss" Österreichs die Kontrolle über die in Wien angesiedelte Interpol übernahm.

Auf Interpol-Treffen tauschten sich Polizisten aus ganz Europa zur Haltung in ihren Ländern gegenüber Roma aus. Übereinstimmend sah man "Zigeuner" als ernsthafte Bedrohung für Recht und Ordnung an. Sie sollten genau beobachtet und umgehend bestraft werden. Als daher Frankreich NS-Deutschland 1939 nach dem Überfall auf Polen den Krieg erklärte, ließen die französischen Behörden umgehend Roma, die sich in den Grenzgebieten zu Deutschland aufhielten, in Lager internieren. Gemäß einem jahrhundertealten Stereotyp verdächtigte man sie der Spionage für die Deutschen.

Es war völkerrechtlich festgelegt, dass Deutschland, sobald ein Land erobert war, als Besatzungsmacht gewährleisten musste, dass wichtige gesellschaftliche Einrichtungen intakt blieben, darunter beispielsweise auch die Polizei. In vielen Einheiten nutzten patriotische Polizeileute ihre Position, um sich der Einführung radikaler, von der nationalsozialistischen Ideologie inspirierter  Veränderungen zu widersetzen.  Als die Nazis örtliche Helfer bei der Verfolgung und Ermordung von Juden brauchten, waren die ersten Freiwilligen radikalisierte faschistische Aktivisten oder Opportunisten, nicht jedoch die Berufspolizei. Bei der Verfolgung der Roma hingegen waren sich  örtliche Polizei und ihre neuen Vorgesetzten von der deutschen Ordnungspolizei jedoch einig.

Maßnahmen gegen "Zigeuner" wurden in den besetzten Ländern inkonsistent eingeführt, sie konnten sich sogar in verschiedenen Teilen desselben Landes  unterscheiden. Unmittelbar nach der Invasion waren Roma manchmal unter den Opfern der Einsatzgruppen-Mordkommandos, zusammen mit Juden, Kommunisten und anderen. Dies geschah in Polen, im Baltikum, in der Ukraine und in anderen osteuropäischen Ländern, jedoch nicht in Norwegen, Dänemark, Frankreich oder anderen Teilen Westeuropas.

An einigen Orten führten die lokalen Gegebenheiten zu ungewöhnlichen Entscheidungen: Zum Beispiel wurden in  Łódź 1940 Roma in das jüdische Ghetto gesperrt. Ende 1941 befahl der deutsche Marinekommandeur, alle "Zigeuner" aus der Küstenstadt Liepāja zu erschießen, da er sie als Sicherheitsbedrohung betrachtete. Die einzige überlebende Romni wurde  zwangssterilisiert. Dieser Fall wurde schließlich bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen der Nachkriegszeit als Beweis genannt. Die von der NS-Polizei überwachte Aktion in Liepāja erfolgte nur deshalb so schnell und umfassend, weil die örtliche lettische Polizei bereits detaillierte Listen der gesamten Roma-Bevölkerung der Stadt, sogar der Kleinkinder, geführt hatte.

Romnia (weibl. Plural von Roma) und Kinder aus dem Elsass im Internierungslager Rivesaltes, Frankreich.

Gefangene im “Zigeuner-Anhaltelager” Lackenbach in Österreich. Roma und Sinti wurden hier unter katastrophalen hygienischen Bedingungen festgehalten und durch Zwangsarbeit ausgebeutet. Von hier aus wurden Männer, Frauen und Kinder in Konzentrationslager, Gettos – etwa in das Getto Litzmannstadt in Łódź – und Vernichtungslager deportiert.

Ein kollaborierender Polizist im von NS-Deutschland besetzten Serbien eskortiert eine Gruppe von Roma zur Hinrichtung.

Eine Gruppe gefangener Roma im Konzentrationslager Belsec wartet im Freien auf Befehle der NS-Aufseher.(1940)

Im vom NS-Regime kontrollierten Osteuropa erfolgte die Hauptwelle der Massenerschießungen von Roma im Jahr 1942, nachdem der größte Teil der jüdischen Bevölkerung vor Ort bereits von den NS-Einsatzgruppen und der NS-Sicherheitspolizei ermordet worden war. In Hinblick auf die Verbrechen gegen die Roma hatten die örtlichen Polizeikräfte einen viel größeren Entscheidungs-spielraum bei der Auslegung und Umsetzung der Anweisungen der NS-Behörden. Die Befehlskette zwischen der deutschen Ordnungspolizei und den örtlichen Polizeichefs in Hinblick auf Maßnahmen gegen "Zigeuner" war schwächer, verglichen mit der Sorgfalt, mit der die NS-Sicherheitspolizei Aktionen gegen Juden überwachte.

Gleichzeitig ergriffen einige lokale Polizeichefs die Kriegslage als Gelegenheit, die "Zigeuner-Plage" ein für alle Mal loszuwerden. Viele Entscheidungen darüber, welche Roma verhaftet, welche getötet, welche in Konzentrationslager deportiert und welche in Ruhe gelassen werden sollten, trafen eher örtliche Polizeichefs als NS-Beamte.

Deshalb konnte das Schicksal der Roma in ein und demselben Land von Polizeidistrikt zu Polizeidistrikt drastisch variieren. Es hing von der Einstellung lokaler Polizeichefs, Präfekten oder Bürgermeister ab. In einigen Fällen nützten Bürger-meister, Polizisten oder Geistliche ihre Autorität, um die Verfolgung und Ermordung lokaler Roma zu verhindern.

NS-Anordnung auf Deutsch und Polnisch über die Begrenzung des Wohngebiets von Roma im Warschauer Bezirk. Ab dem 1. Juni 1942 durften Zigeuner nur noch in jüdischen Gettos leben.

Zwischen 1942 und 1944 verhafteten lokale Polizeikräfte in ganz Europa immer mehr "Zigeuner" und schickten sie in Gefängnisse oder Arbeitslager. Bereits 1942 wurde eine große Anzahl polnischer Roma in Treblinka vergast. Im selben Jahr ordnete Himmler die Deportation der Roma in den wachsenden Lagerkomplex in Auschwitz an. Im Februar 1943 ließ er "Zigeuner" aus ganz Europa dorthin deportieren. Eine eigenes Areal in Auschwitz-Birkenau wurde als "Zigeunerlager" für Familien abgegrenzt. Während in den meisten Konzentrationslagern Männer immer von Frauen und Kindern getrennt wurden.

Anna Maria (Settela) Steinbach, eine 10-jährige Romni aus Holland, wurde 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet.

In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 schlossen die SS-Wachen das "Zigeunerlager" in Auschwitz, ermordeten die Mehrheit der Insassen in den Gaskammern und schickten die übrigen als Sklavenarbeiter in andere Konzentrationslager. Viele Roma gedenken am 2. August der Opfer des Völkermordes.

Auch Faschisten außerhalb des Deutschen Reiches und autoritäre Verbündete beteiligten sich an der Planung und Durchführung des Völkermords an den Roma-Minderheiten in Europa. Das kroatische Ustaša-Regime ermordete zahlreiche Roma, meist ohne Aufzeichnungen über die Zahl der Ermordeten zu führen. Als die "Pfeilkreuz-Faschisten" 1944 in Ungarn die Kontrolle über-nahmen, lösten sie auch dort eine Welle von Mordanschlägen gegen Roma aus.

Rumäniens Führer Ion Antonescu, ein Verbündeter Hitlers, zwang die rumänischen Roma nach Transnistirien zu ziehen, ein Gebiet, das Rumänien kurz zuvor von der UdSSR erobert hatte. Tausende Roma starben dort an Hunger und Krankheit, weil das Nötigste um zu überleben fehlte. Norwegens Staatsoberhaupt Vidkun Quisling erstellte noch 1945 zu Kriegsende Pläne, wie das "Problem" der norwegischen Roma zu "lösen“ sei, nachdem man sie nicht mehr nach Auschwitz schicken konnte.

Selbst Finnland, das zusammen mit NS-Deutschland in die UdSSR eingefallen war, geriet unter Druck, sich der Anti-Roma-Politik anzuschließen. 1944 zwang die Sowjetunion Finnland jedoch, die Seite zu wechseln und stattdessen gegen die Deutschen zu kämpfen.

Wo es ihnen möglich war, leisteten die Roma Widerstand gegen die Verfolgung durch Nazis, ihre Kollaborateure und Verbündeten. In Frankreich, Italien und auf dem Balkan schlossen sie sich dem Guerilla-Widerstand an. Eine beträchtliche Anzahl von Roma diente auch in den sowjetischen Streitkräften, um NS-Deutschland zu bekämpfen.
Netzwerke aus Familien und Freunden brachten große Kräfte auf, um von der Polizei verfolgte Roma - aber auch Nicht-Angehörige der Roma - zu verstecken und zu unterstützen. So beschreibt die lettische Jüdin Valentīna Freimane in ihrer Biografie, wie eine Romni sie damals gerettet hatte.

 

Befreiung und Vermächtnis

1945 wurden überlebende Roma-Häftlinge aus den NS-Lagern befreit und versuchten, nach Hause zurückzukehren. Selten waren sie in ihren Herkunfts-ländern willkommen, vielmehr sahen sie sich mit denselben alten Vorurteilen, die auf langjährigem Antiziganismus beruhten, konfrontiert.

Überlebende Frauen in den “Zigeunerbaracken” des Konzentrationslagers Bergen-Belsen nach der Befreiung.

Selbst nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes hielt sich die Auffassung, dass "Zigeuner" eine potenziell kriminelle soziale Problemgruppe seien. In den wenigen Fällen in Westdeutschland, in denen Polizisten nach dem Krieg wegen ihrer Rolle bei der Ermordung von Roma vor Gericht gestellt wurden, konnten sie erfolgreich argumentieren, in verbrechensbekämpfender Funktion gehandelt zu haben und keinesfalls an den völkermörderischen NS-Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Geleitet von der Überzeugung, dass "Zigeuner" von Natur aus kriminell seien, akzeptierten die Gerichte diese Argumentation und sprachen die Angeklagten frei. So wurde auch Eva Justin für ihre Assistenz bei Robert Ritter nicht zur Verantwortung gezogen, sie konnte sogar die Erforschung der deutschen "Zigeuner" fortsetzen.

Noch im Jahr 2000 behauptete der einflussreiche amerikanische Politikwissenschaftler Guenter Lewy,  Roma seien nicht Opfer eines Genozids gewesen, da die Nationalsozialisten und ihre Verbündeten "Zigeuner" als mutmaßliche Kriminelle, Spione und Überträger von Krankheiten verfolgten und töteten, und nicht etwa, weil sie Roma waren.

Selbst in den kommunistischen Ländern Osteuropas, wo angeblich kein Rassismus existierte, war der Antiziganismus unter der Oberfläche weit verbreitet. Kommunistische Regierungen anerkannten einzelne Roma als Opfer nationalsozialistischer oder lokaler faschistischer Verbrechen, die Tragödie der Roma wurde jedoch - so wie der Holocaust - als Teil des allgemeinen Leides während des Krieges gesehen und nicht als gezielter Völkermord anerkannt. Darüber hinaus sahen auch kommunistische Regierungen "Zigeuner" als Problem für die Gesellschaft an, allerdings als ein Problem, das sozialpolitisch zu lösen war und sie zu guten und produktiven Arbeitern machen würde.

 

Die langjährige Feindseligkeit in den Mehrheitsgesellschaften, die im Zweiten Weltkrieg zum Völkermord führte, stand fundierter Forschung entgegen. Roma gaben Erzählungen über den Völkermord nur untereinander weiter. Diese wurden zum festen Bestandteil jener Roma-Identität, die in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg Gestalt annahm. 1971 erwählte der erste World Romani Congress in London das Lied "Gelem, gelem", das auf den Völkermord verweist, zur Hymne des Roma-Volkes. Überlebende unter den Roma waren jedoch zurückhalted, wenn sie WissenschaftlerrInnen, die selbst keine Roma waren, ihre Geschichten erzählen sollten. Zunächst gab es - abgesehen von einigen jüdischen Holocaust-ForscherInnen - kaum Interesse am Schicksal der Roma unter dem NS-Regime. Später begannen vereinzelte WissenschaftlerInnen unter den Roma selbst den Völkermord zu erforschen und bekannt zu machen. Aus diesem Grund und dem Mangel an anderen Quellen blieben viele Fragen zum Roma-Genozid bis heute unbeantwortet. So ist etwa die Zahl jener Roma, die im Zuge des Völkermordes umgekommen sind, bis heute unbekannt.

Denkmal für Roma und Sinti, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, Berlin.

Langsam ändern sich die Einstellungen: Regierungen setzen sich mit dem Problem des Antiziganismus auseinander, Gedenkstätten für die Opfer des Völkermordes an den Roma wurden geschaffen. Eines der bedeutendsten wurde 2012 in Berlin enthüllt. Für den Völkermord wurde nach Namen gesucht. Roma-Aktivisten schlugen unter anderem "Por(r)ajmos" vor, wie bei vielen anderen Begriffen gehen auch bei diesem Begriff die Meinungen unter den Roma auseinander. Wir haben uns hier auf den Begriff "Roma-Völkermord" geeinigt. square.jpg